„Niedrige Wahlbeteiligung bedeutet ungleiche Vertretung“
23. Mai 2024aus dem Amnesty Magazin, Ausgabe Juni 2024
Eva Zeglovits ist österreichische Politikwissenschafterin und Meinungsforscherin und leitet das Institut für empirische Sozialforschung (IFES). Im Gespräch erklärt sie, warum eine niedrige Wahlbeteiligung für die Demokratie bedenklich ist und was Wähler*innen zur Urne bringt.
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Wie hat sich die Wahlbeteiligung in Österreich in den letzten Jahren entwickelt?
In den letzten zehn Jahren haben wir eher Schwankungen gesehen als einen klaren Rückgang. Bei einigen Wahlen, wie den EU-Wahlen 2019, gab es eine ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung, beeinflusst durch innenpolitische Ereignisse rund um den Ibiza-Skandal.
Bei manchen Wahlen spielt es auch eine große Rolle, ob es ein knappes Rennen zwischen verschiedenen Kandidaten gibt, die sehr unterschiedlich sind. So stieg beispielsweise bei den österreichischen Präsidentschaftswahlen 2016 zwischen Van der Bellen und Hofer die Wahlbeteiligung aufgrund des wahrgenommenen Wettbewerbs an.
Warum entscheiden sich Menschen dafür oder dagegen, zur Wahl zu gehen?
Vor allem drei Hauptfaktoren beeinflussen die Wahlbeteiligung: Ressourcen, Engagement und Mobilisierung.
Ressourcen umfassen das Wissen über den Wahlprozess, Kenntnisse über die Kandidaten, das Wissen darüber, wie man wählt, sowie Informationen über die Standorte und Öffnungszeiten der Wahllokale. Sozioökonomische Faktoren wie Bildung und finanzielle Sicherheit sind ebenfalls entscheidend. Ein höheres Bildungsniveau geht oft mit einem leichteren Zugang zu schriftlichen Informationen einher, was die Möglichkeit einer fundierten Entscheidung bei der Wahl beeinflussen kann. Ferner haben Menschen, die unter finanziellem Druck stehen, möglicherweise nicht die Zeit oder Energie, sich mit den Wahlen zu befassen.
Engagement heißt die Wahrnehmung der Bedeutung der Stimmabgabe und die Fähigkeit, politische Ergebnisse zu beeinflussen. Menschen, die das Gefühl haben, Einfluss auf die Politik nehmen zu können, oder die die Auswirkungen von Politik wahrnehmen, sind eher bereit, sich zu beteiligen. Umgekehrt werden Personen, die glauben, dass die politischen Ergebnisse unabhängig davon, wer an der Macht ist, gleichbleiben, möglicherweise nicht wählen gehen.
Bei der Mobilisierung geht es um persönliche Interaktionen, sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Rahmen von Kampagnen. Also direkte Interaktionen, die Menschen dazu motivieren, wählen zu gehen.
Was bedeutet das für die kommenden Wahlen in Österreich?
Angesichts eines breiten politischen Angebots könnten die kommenden Wahlen in Österreich eine höhere Wahlbeteiligung verzeichnen. Insbesondere bei denjenigen, die mit der derzeitigen politischen Situation unzufrieden sind und nach alternativen Optionen suchen.
Die Mobilisierung der Wähler stellt für alle politischen Parteien eine große Herausforderung dar. Es ist wichtig, zu erkennen, dass jede Stimme von Bedeutung ist. Tatsächlich gibt es Wahlen, bei denen eine einzige Stimme einen Unterschied macht. Ich habe sogar eine Liste von Wahlen, meist Bürgermeister- und Regionalwahlen, bei denen eine einzelne Stimme ausschlaggebend für das Ergebnis war.
Welche Auswirkungen hat es auf die Demokratie, nicht wählen zu gehen?
Eine niedrige Wahlbeteiligung bedeutet meist eine ungleiche Beteiligung und kann zu einer sogenannten Partizipationslücke führen. Das bedeutet, dass die Menschen, die nicht zur Wahl gehen, letztlich nicht in ihren Interessen vertreten werden. Das kann systematische Ursachen haben und ist demokratiepolitisch bedenklich.
Die Nichtwähler variieren je nach der wahrgenommenen Bedeutung der Wahl. Manche Personen bleiben konsequent der Wahl fern. Da Nichtwählen oft sozial unerwünscht ist, ist es schwierig, ihre Anzahl zu ermitteln. Wir gehen jedoch von fünf bis zehn Prozent der Wahlberechtigten aus.
Wahlbeteiligung an den Nationalratswahlen in Österreich
1971: 92,4 %
1983: 92,6 %
1990: 86,1 %
1999: 80,4 %
2006: 78,5 %
2019: 75,6 %
Eine weitere Herausforderung ist der Status der Nicht-Staatsbürgerschaft, was besonders in städtischen Gebieten weit verbreitet ist. In Wien ist fast jede zweite Person unter 30 Jahren nicht wahlberechtigt. Dies kann zu einem Gefühl der Nicht-Beteiligung und Entmachtung führen. So eine demografische Diskrepanz gibt Anlass zur Sorge. Insbesondere wenn man bedenkt, dass eine beträchtliche Anzahl von Nicht-Staatsbürgern dennoch von politischen Entscheidungen betroffen ist.
Was das langfristig macht, ist noch unklar. Bei jungen Menschen in Wien ist es tatsächlich mittlerweile eine Größenordnung, die demokratiepolitisch nicht mehr egal sein kann.
Wie beeinflussen die aktuell vorherrschenden Themen die Wahlen?
Die Themen, die im politischen Diskurs dominieren, werden oft von aktuellen Krisen geprägt. Während Themen wie Arbeitsbedingungen und Steuern ständig präsent sind, können andere Themen wie die COVID-19-Pandemie oder der Klimawandel je nach den aktuellen Ereignissen an Bedeutung gewinnen oder abnehmen. Die Frage der Zuwanderung ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt, der die öffentliche Meinung und die Wahlentscheidungen beeinflussen kann.
Interessanterweise gibt es paradoxe Beobachtungen in Bezug auf bestimmte Themen. Bei der Frage nach aktuellen Sorgen nennen Menschen oft Themen, die emotional aufgeladen sind, wie steigende Kosten oder Einwanderung. Wenn die Befragten jedoch zwischen vorgegebenen Themen wählen, rangiert Einwanderung nicht so stark wie beispielsweise Gesundheit oder Bildung.
Auch Skandale spielen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung oder Demobilisierung von Wählern. Insbesondere Korruption führt zu einem Verlust an Vertrauen in die politischen Parteien und fördert den Glauben, dass alle gleichermaßen korrupt sind. Versuche der Parteien, Wähler zu mobilisieren, indem sie ihren Gegnern Korruption vorwerfen, gehen oft nach hinten los. Dies erhöht eher die allgemeine Frustration gegenüber der Politik und kann Wähler abschrecken.
Welche Maßnahmen sollte die Politik ergreifen, um ein tieferes Verständnis von Demokratie zu fördern?
Bildung, insbesondere in Schulen, birgt ein immenses Potenzial, um demokratische Werte zu vermitteln. Die Einbeziehung einer politischen Bildung in die Lehrpläne fördert, dass Schüler, unabhängig von ihrem Hintergrund, ein differenziertes Bild der demokratischen Grundsätze erhalten. Es ist wichtig, diese Bildung greifbar und ansprechend zu gestalten und über theoretische Diskussionen hinaus praktische Erfahrungen einzubeziehen. Initiativen wie Jugendparlamente, in denen junge Menschen aktiv an Entscheidungsprozessen teilnehmen, die Auswirkungen haben, sind in diesem Zusammenhang sehr hilfreich.
Darüber hinaus liegt es in der Verantwortung der Politik, auf die Bevölkerung zuzugehen. Lernen von Demokratie heißt, dass man es auch tatsächlich lebt. Politiker sollten ihr Engagement für die Demokratie durch eine integrative Gestaltung der Politik oder Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung fördern.
Gelingt dies nicht, wie es teils auch während der Pandemie der Fall war, kann dies zu Verdrossenheit unter Bürgern führen, die sich übersehen und ausgegrenzt fühlen. Wir müssen den Eindruck vermeiden, dass Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Transparenz ist dafür entscheidend.
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Interview: Antonio Prokscha
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