Ein Jahr nach dem Angriff des 7. Oktober: „Wir sind zerbrochen, aber trotzdem stark“
8. Oktober 2024Ein Jahr nach dem 7. Oktober haben wir mit Menschen aus Israel gesprochen, die bei dem grausamen Angriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf Israel Angehörige und Freund*innen verloren haben. Einer von ihnen ist Avi Dabush. Er ist Rabbi und Geschäftsführer der Organisation „Rabbis for Human Rights“ in Israel. Gemeinsam mit seiner Familie überlebte Avi Dabush den Hamas-Angriff am 7. Oktober im Bunker seines Hauses im Kibbuz Nirim. Sein Engagement für ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinenser*innen setzte er auch danach unbeirrt fort.
Mehr als zwölf Stunden verbrachten meine Familie und ich am 7. Oktober im Bunker unseres Hauses, bevor uns die Armee in eine Gemeinschaftsunterkunft brachte. Die Gesichter der anderen Kibbuz-Bewohner*innen, die wir dort trafen, kann ich nicht vergessen. Sie standen alle unter Schock und uns wurde klar, dass wir genauso aussahen. Nach und nach erfuhren wir Details darüber, was passiert war – welche unserer Freund*innen getötet oder verschleppt worden waren.
Zwei Tage später versammelte ich meine Kolleg*innen von Rabbis for Human Rights. Uns allen ging es schlecht, aber wir wussten, dass unsere Arbeit jetzt wichtiger war denn je. Wir konnten uns nicht einfach verkriechen und sagen: Wir sehen uns in ein paar Monaten! Im Gegenteil mussten wir unser Engagement noch verstärken. Als Organisation konzentrieren wir uns weiter auf unsere Arbeit in der Westbank. Durch unsere Anwesenheit schützen wir dort die Menschen vor den Angriffen der Siedler*innen: auf dem Weg zur Schule, beim Hüten ihrer Schafe oder bei der Olivenernte.
Vielleicht ist meine Arbeit auch eine Form der Verdrängung. So muss ich mich nicht mit meinen eigenen Gefühlen auseinandersetzen. Aber es fühlt sich gesund und natürlich an. Jede Familie, jede Gemeinschaft hat Menschen, denen es schlechter geht als mir. Ich will ihnen helfen, und helfe dadurch auch mir selbst. Ich sage immer: Wir sind zerbrochen, aber trotzdem stark.
Seit Mitte Oktober setzen ich und meine Mitstreiter*innen bei „Rabbis for Human Rights“ uns für die Rückkehr der Geiseln und für ein Ende des Krieges ein. Für mich persönlich war das anfangs gar nicht so einfach.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Familie in den Kibbuz Nirim zurückkehrt, solange wenige Kilometer entfernt die Hamas regiert. Aber als Menschenrechtsaktivist weiß ich, dass der Krieg enden muss. Und ich bin überzeugt davon, dass wir eine diplomatische Lösung brauchen.
Avi Dabush, Rabbi und Geschäftsführer der Organisation „Rabbis for Human Rights“ in Israel
In Gaza sollte die Palästinensische Autonomiebehörde Teil der Lösung sein. Außerdem brauchen wir eine Koalition moderater Staaten in der Region, um Gaza zu stabilisieren.
Dem zugrunde liegen muss natürlich der Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen. Wir müssen die Besatzung beenden und einen Verhandlungsprozess starten. Ich bin Jude und Zionist und glaube fest daran, dass Israel ein Recht hat, an diesem Ort zu existieren. Meine Vorfahren kommen aus Libyen und Syrien, sie sind seit Jahrhunderten in der Region. Aber gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass die Palästinenser*innen einen Staat brauchen. Ich könnte mir zum Beispiel eine israelisch-palästinensische Konföderation mit offenen Grenzen vorstellen. Voraussetzung dafür ist, dass wir die Entmenschlichung, die wir gelernt haben, aus unserem System entfernen.
Ich kann durch meine eigenen Erfahrung verstehen, dass Menschen wütend sind oder Rache wollen. Aber es ist möglich, sich für einen anderen Weg zu entscheiden.
Avi Dabush, Rabbi und Geschäftsführer der Organisation „Rabbis for Human Rights“ in Israel
Extremistische Kräfte auf beiden Seiten nutzen die Sprache des Judentums und des Islams, um Gewalt zu propagieren. Ich bin selbst in einer rechten Gemeinde aufgewachsen, mit Rabbis, die der heutigen Regierung die religiöse Grundlage liefern. Ich hätte mich vom Judentum distanzieren können, weil ich seine korrupten, rassistischen und gewalttätigen Seiten kenne. Aber ich glaube, im Gegenteil, dass wir um das Judentum kämpfen müssen. Religionen wurden schon immer für Schlechtes missbraucht. Aber sie sollten und können auch eine Quelle des Guten sein.
Dieser Krieg ist nicht nur eine physische Bedrohung, sondern er bedroht auch unsere Werte als Jüd*innen. Als Rabbis sind wir verpflichtet, uns für die Menschenrechte einzusetzen. In der Tora steht, wenn auch in einem anderen Kontext: „Du kannst nicht ignorieren.“ Das ist eine sehr wichtige Regel für mich. Wir können nicht ignorieren, was in unserem Namen geschieht, was am 7. Oktober geschah, was in Gaza geschieht. Wir können die Geiseln genauso wenig ignorieren, wie die Kinder in Gaza, die Familien, die getötet wurden, hungern oder ihr Zuhause verloren haben.
Ein zentraler Wert im Judentum ist, dass alle Menschen gleich sind. Das ist leicht gesagt, aber es kann schwer sein, das Abbild Gottes in jedem Menschen zu sehen – selbst in denen, die uns angegriffen haben. Es gibt absolut keine Rechtfertigung für das schreckliche Massaker am 7. Oktober, und ich bin bedrückt, dass manche Menschen die Verbrechen leugnen oder legitimieren. Es gibt jedoch einen historischen Kontext. Das waren keine Außerirdischen, die uns aus dem Nichts angegriffen haben, und die wir nur besiegen können, indem wir sie alle umbringen. Israel trägt nicht die alleinige, aber einen großen Teil der Verantwortung dafür, dass Gaza so geworden ist, wie es heute ist.
Wir leben in sehr finsteren, verwirrenden Zeiten. Für viele Menschen ist es schwer zu hören, was ich gerade gesagt habe. In der Öffentlichkeit sind die Stimmen lauter, die zu Gewalt aufrufen und alle Menschen in Gaza für schuldig erklären. Viele Menschen glauben an Menschenrechte, aber wagen es nicht, darüber zu sprechen. Ich bin davon überzeugt, dass es in unserem Interesse ist, uns für Frieden und Gleichberechtigung einzusetzen, und mit den Palästinenser*innen in Frieden zu leben. Wir müssen eine bessere Lösung finden als einfach nur zu kämpfen.
Bericht von Avi Dabush