„Von Personen, die in Haft waren, wissen wir, dass die Hafteinrichtungen Folterkammern gleichen, in denen Protestierende auf dem Boden liegen müssen, während sie von Sicherheitskräften getreten und mit Schlagstöcken malträtiert werden. Sie beschrieben, wie sie sich ausziehen mussten und dann auf sadistische Weise geschlagen wurden, während sie die Schreie anderer Betroffener hören konnten. Es handelt sich hierbei um Menschen, deren einziges ‚Vergehen‘ es war, sich an friedlichen Protesten zu beteiligen. Was gerade in Belarus geschieht, ist eine menschenrechtliche Katastrophe, und die Welt muss dringend einschreiten.“
Amnesty International fordert Staats- und Regierungschef*innen auf, Druck auf die Regierung von Belarus auszuüben, um diese entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen zu stoppen.
Unmenschliche und erniedrigende Behandlung
Amnesty International-Mitarbeiter*innen vor Ort haben in den vergangenen Tagen in Minsk die brutale Reaktion auf die Proteste beobachtet und mit Personen gesprochen, die inhaftiert wurden.
Katsyaryna Novikava sagte Amnesty International, dass sie am Abend des 10. August im Stadtzentrum festgenommen wurde, als sie gerade auf dem Weg zu einem Supermarkt war. Sie verbrachte 34 Stunden in einem speziellen Haftzentrum für die Isolierung von Straffälligen. Ihren Angaben zufolge war der gesamte Gefängnishof voll mit Männern, die sich auf den Boden legen mussten. Im Innern des Haftzentrums wurden Dutzende Männer gezwungen, sich nackt auszuziehen und auf allen Vieren zu knien, während sie von Sicherheitskräften getreten und mit Knüppeln geschlagen wurden. Katsyaryna Novikava musste sich ebenfalls hinknien und die Schreie der Folteropfer mit anhören.
Sie teilte sich eine für vier Personen ausgelegte Zelle mit 20 weiteren Frauen. Sie schliefen auf dem Boden, erhielten weder Wasser noch Nahrungsmittel, und hatten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Mehrere weibliche Mitgefangene erzählten Katsyaryna Novikava, dass sie von Sicherheitskräften mit Vergewaltigung bedroht worden waren.
Katsyaryna Novikava erfuhr erst 22 Stunden nach ihrer Festnahme, dass man ihr vorwarf, an einer nicht genehmigten Versammlung teilgenommen zu haben. Als man sie am frühen Morgen des 12. August freiließ, sagten die Polizist*innen zu ihr: „Wir haben alle deine Daten. Wenn wir dich hier nochmal sehen, bringen wir dich um.“ Ihre Habseligkeiten, darunter auch ihr Reisepass und ihre Wohnungsschlüssel, gab man ihr nicht zurück.
Nikita Telizhenko, ein Journalist beim russischen Online-Nachrichtenportal Znak.com, wurde ebenfalls am Abend des 10. August festgenommen. In einem Artikel beschreibt er die Erfahrung: „Im Polizeiwagen wurden viele der Festgenommenen willkürlich geschlagen – weil sie Tattoos hatten, oder lange Haare. ‚Du Schwuchtel, dich werden sie im Gefängnis schon bekehren‘, so wurden sie von ihnen [den Polizist*innen] angeschrien.“
Laut Nikita Telizhenko verbrachte er die nächsten 16 Stunden auf der Behörde für Inneres im Stadtbezirk Maskouski. Dort „zwang die Polizei die Inhaftierten zum Gebet; sie mussten das Vaterunser lesen. Wer sich weigerte, wurde auf verschiedenste Weise geschlagen. Wir konnten hören, wie auf den Stockwerken über und unter uns Menschen geschlagen wurden.“
Ein anderer Journalist, Maksim Solopov, berichtete den Medien: „Wir mussten viel knien, und uns mit gespreizten Beinen auf den Boden legen. [...] Ich hatte Angst. Ich bin jemand, der viel gesehen hat, aber das hat mir Angst gemacht.“ Maksim Solopov ist russischer Staatsangehöriger und arbeitet für das lettische Online-Nachrichtenportal Meduza. Er wurde am Abend des 9. August festgenommen und fiel 40 Stunden lang dem Verschwindenlassen zum Opfer. Er wurde – mit sichtbaren Prellungen – freigelassen, nachdem die russische Botschaft eingriff und sein Fall öffentlich bekannt wurde.
Die Menschenrechtsorganisation Viasna hat Nachweise dafür gesammelt, dass sich Gefangene auf manchen Polizeistationen mehrere Stunden lang mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen oder gegen eine Wand stellen mussten, und bei der kleinsten Bewegung geschlagen wurden. Die Aussagen zahlreicher Menschen sowie nach draußen geschmuggelte Videoaufnahmen bestätigen dies.
„Diese Berichte sind keine Einzelfälle. Aus dem ganzen Land liegen unzählige Folterberichte vor, die durch Video- und Bildaufnahmen in den Sozialen Medien belegt werden. Es deutet daher alles darauf hin, dass dieser Ansatz von höchster Stelle sanktioniert wurde“, so Marie Struthers.
„Wir fordern die Behörden in Belarus erneut auf, dieses brutale Vorgehen einzustellen und es Protestierenden zu erlauben, ihre Ansichten frei zu äußern, ohne gewaltsame Repressalien befürchten zu müssen.“
Nach der Festnahme „verschwunden“
Der Verbleib von mehreren Hundert Festgenommenen ist nach wie vor ungeklärt. In mindestens einigen dieser Fälle könnten die Inhaftierten dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen sein. Viele Menschen sind seit dem 9. August inhaftiert. Nach Angaben des Innenministeriums von Belarus sind in den ersten vier Protesttagen 6.700 Personen festgenommen worden.
Familienangehörige und Rechtsbeistände von Dutzenden Gefangenen haben erfolglos versucht, deren Verbleib in Erfahrung zu bringen. Sie haben sich auf Polizeiwachen erkundigt und bei Gerichten erläutert, dass dort gegen niemanden ohne anwaltlichen Beistand Verfahren stattfinden können. Am 12. August ging die Einsatzpolizei mit Gewalt gegen ca. 200 Verwandte von Inhaftierten vor, die sich friedlich vor der Hafteinrichtung Akrestsyna versammelt hatten.