© Summer Panadd
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Technologiesysteme befeuern weltweit Geschlechterungleichheit

10. Juli 2024

Rund um den Globus sorgen Technologiesysteme für eine Verschärfung der Geschlechterungleichheit und der Diskriminierung aus rassistischen oder sozio-ökonomischen Gründen. Dies geht aus einem neuen Bericht von Amnesty International mit dem Titel Gender, Tech and Inequality hervor.

Praktiken zur großflächigen und unangebrachten Datensammlung bedrohen die Menschenrechte von ausgegrenzten Gruppen wie z. B. Frauen und LGBTQIA+ Personen, da sie deren individuelle Lebenssituationen nicht angemessen abbilden. Von Regierungsseite werden solche Datenerfassungstaktiken als kostensparende Lösung zur Einführung automatisierter Systeme für die Auszahlung von Sozialleistungen gerechtfertigt, während große Tech-Konzerne persönliche Nutzerdaten horten und für ihre lukrativen überwachungsbasierten Geschäftsmodelle einsetzen.

Diese unzureichend regulierte Erhebung und Verarbeitung riesiger Datenmengen ist als Massenüberwachung zu werten und normalisiert zudem die Diskriminierung von Frauen und LGBTQIA+ Personen.

Von der unkontrollierten Einführung digitaler Ausweissysteme bis hin zu Algorithmen im Sozialleistungssystem – Technologie wird immer stärker in alle unsere Lebensbereiche integriert. Gleichzeitig besteht allerdings eine geschlechterbezogene ‚digitale Kluft‘, da historische Ungleichheiten den Zugang zur Technik für bestimmte Gruppen erschweren.

Imogen Richmond-Bishop, Expertin für Technologie und WSK-Rechte bei Amnesty International.

„Alle Technologielösungen, die im Rahmen der Regierungsführung eingeführt werden, sind bereits in den diskriminierenden Kontext dieser bestehenden digitalen Kluft eingebettet.“

In Pakistan beispielsweise setzte die Nationale Registrierungsbehörde NADRA im Jahr 2023 drei Monate lang im computergestützten System zur Ausstellung von Personalausweisen die Kategorie „X“ aus. Diese Kategorie ermöglichte die Identifizierung mit einem anderen Geschlecht als männlich oder weiblich. Tausende trans und gender-diverse Menschen hatten aufgrund dieser Entscheidung keine gültigen Ausweispapiere, was bedeutete, dass sie ihre Grundrechte wie z. B. das Wahlrecht oder ihre Rechte auf Gesundheitsversorgung und Beschäftigung nicht wahrnehmen konnten. Im September 2023 wurden die Registrierungen unter der Kategorie „X“ wieder aufgenommen.

Neben der digitalen Kluft gibt es noch zahlreiche weitere Hürden, die Frauen, Mädchen und LGBTQIA+ Personen die Wahrnehmung ihrer Menschenrechte im digitalen Raum erschweren, u. a. Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationen über sexuelle und reproduktive Gesundheit, Rechte und Dienstleistungen wie z. B. Schwangerschaftsabbrüche.

Die Einschränkung von Gesundheitsinformationen durch Regierungen oder Social-Media-Plattformen verstößt u. U. gegen das Recht auf Gesundheit, insbesondere wenn es sich um grundlegende Dienstleistungen für Frauen und LGBTQIA+ Personen handelt. Dies ist in den USA immer stärker zu beobachten, wo Aktivist*innen und Organisationen, die sich für reproduktive Rechte einsetzen, darüber berichten, dass Meta und TikTok Inhalte mit Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche entfernen, was faktisch den Zugang zu lebensrettenden Informationen behindert.

Technologiesysteme, die zur Bewerbung von Inhalten auf Social-Media-Plattformen mit Algorithmen arbeiten, leisten u. U. ebenfalls Vorurteilen Vorschub, indem sie die Verbreitung von diskriminierenden Inhalten befeuern. Recherchen von Amnesty International über TikTok haben ergeben, dass das Unternehmen aus den vorliegenden Nutzer*inneninformationen persönliche Merkmale über diese ableitet, einschließlich Geschlecht und Interessen, um ihnen personalisierte und maßgeschneiderte Inhalte und Werbung anzuzeigen.

Auch die gezielte digitale Überwachung anhand von Spionagesoftware kann als eine Form von technologiegestützter geschlechtsspezifischer Gewalt betrachtet werden. Frauen und LGBTQIA+ Personen werden wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte ins Visier genommen und überwacht, was eine Reihe von geschlechtsspezifischen Folgen nach sich ziehen kann.

Recherchen von Amnesty International in Thailand zeigten auf, dass Aktivist*innen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren böswillig und rechtswidrig digital überwacht und schikaniert wurden, was für diejenigen, die sich für die Rechte von Frauen und LGBTQIA+ Personen einsetzten, äußerst abträgliche Folgen hatte. Solche böswilligen Übergriffe, u. a. mit der berüchtigten Spionagesoftware Pegasus, haben zu Abschreckung und in einigen Fällen auch zu Selbstzensur oder der Einstellung des Aktivismus geführt.

In Thailand werden Frauenrechtlerinnen und LGBTQIA+ Aktivist*innen zudem mit Online-Schikane wie Doxing, Verleumdungskampagnen, Drohungen und Beleidigungen ins Visier genommen. Ziel ist es, sie einzuschüchtern, ihnen Angst einzujagen und sie zum Schweigen zu bringen.

Regierungen und nichtstaatliche Akteure müssen zur Regulierung von Technologie dringend einen Ansatz wählen, der ausdrücklich geschlechtersensibel ist. Wenn diese Systeme dazu führen, dass Frauen und LGBTQIA+ Personen diskriminiert und ungleich behandelt werden, dann dürfen sie nicht eingesetzt werden.

Imogen Richmond-Bishop, Expertin für Technologie und WSK-Rechte bei Amnesty International.

Automatisierter Ausschluss von Sozialleistungen

Amnesty International veröffentlichte im Jahr 2024 einen Bericht über das System Samagra Vedika, das im indischen Bundesstaat Telangana für Sozialhilfeleistungen zum Einsatz kommt. Zuvor war Samagra Vedika in den Medien dafür verantwortlich gemacht worden, dass offenbar Tausende Menschen von Sozialleistungen ausgeschlossen wurden, was u. a. deren Ernährungssicherheit, Einkommenssicherheit und Wohnraum beeinträchtigte.

Der 2023 von Amnesty International herausgegebene Bericht Trapped by Automation: Poverty and Discrimination in Serbia’s Welfare State dokumentierte, wie in Serbien im Zuge eines neuen Registrierungssystems zahlreichen Menschen die Sozialleistungen entzogen wurden, wodurch diese Schwierigkeiten hatten, ihre Rechnungen zu bezahlen, ihre Familien zu ernähren und ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Betroffen waren insbesondere Rom*nja und Menschen mit Behinderungen.