Schicksalsjahr für Menschenrechte

Der aktuelle Jahresbericht von Amnesty International 2023/24 zeichnet ein düsteres Bild der weltweiten Menschenrechtslage.

Eskalierende Konflikte und der Beinahe-Zusammenbruch des internationalen Rechts machen uns große Sorgen. Die rasante Entwicklung neuer Technologien bedroht unsere Rechte, während ihre Regulierung weitgehend unwirksam ist.

Auch in Österreich gibt es noch viel zu tun, bis die Rechte aller Menschen geschützt sind. Das gilt insbesondere für Frauen sowie armutsbetroffene und geflüchtete Menschen.

Der Jahresbericht zeigt den Handlungsbedarf der Politik auf – und, warum es im Superwahljahr 2024 dringend notwendig ist, unsere Rechte zu verteidigen.​

 

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© AFP via Getty Images, Luisa Balaban, Getty Images, Anadolu Agency via Getty Images, Ernesto Benavides/AFP via Getty Images, Aphotografia/Getty Images, Hasan Mrad/DeFodi Images via Getty Images, NurPhoto via Getty Images / Collage: Amnesty International

Unsere Mitarbeiter*innen haben zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts dokumentiert.

Das Versagen der internationalen Gemeinschaft beim Schutz der Zivilbevölkerung wird in Gaza, der Ukraine, im Sudan, in Myanmar und weiteren Konflikten weltweit deutlich.

Dabei besonders besorgniserregend ist die fast vollständige Lähmung völkerrechtlicher Institutionen. Manche Konfliktparteien agierten, als sei die Einhaltung des humanitären Völkerrechts nur eine Option. Dem UN-Sicherheitsrat gelang es nicht, wirksam gegen größere Konflikte vorzugehen.

© Mahmud Hams AFP Via Getty Images

Im Sudan starben durch wahllose und gezielte Angriffe beider Konfliktparteien 12.000 Menschen. 8 Millionen sind Binnenvertriebene und die Bevölkerung steht vor einer Hungersnot.

Mit dem Angriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen eskalierte am 7. Oktober 2023 der Nahostkonflikt erneut. Die israelischen Behörden reagierten mit Luftangriffen auf bewohnte zivile Gebiete in Gaza, die oft ganze Familien auslöschten.

 

© AFP

Das vergangene Jahr war auch von den eklatanten Verstößen der russischen Streitkräfte bei ihrer anhaltenden Invasion in der Ukraine geprägt. Dazu zählen wahllose Angriffe auf dicht besiedelte zivile Gebiete sowie Folter von Kriegsgefangenen.

Myanmars Militär und die mit ihm verbundenen Milizen führten ebenfalls Angriffe auf Zivilpersonen durch, bei denen allein letztes Jahr über 1.000 Menschen ums Leben kamen.

© Lauren Murphy Amnesty International USA

Weder die russische noch die myanmarische Regierung haben sich verpflichtet, die Berichte über Menschenrechtsverstöße zu untersuchen. Der internationalen Gemeinschaft ist es nicht gelungen, im Gazastreifen Tausende Zivilist*innen vor dem Tod zu bewahren.

Die Institutionen, die zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Wahrung der Menschenrechte geschaffen wurden, erfüllen ihren Zweck nicht mehr.

Der Amnesty Jahresbericht dokumentiert, wie viele mächtige Staaten den Grundprinzipien der Menschlichkeit und Universalität, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, den Rücken kehren.

 

„Als Researcher*innen befragen wir Zeug*innen, Überlebende und Opfer. Und dann vergleichen wir diese Aussagen mit den visuellen Beweisen und anderen Beweismitteln, die uns zur Verfügung stehen. Wir analysieren Satellitenbilder, überprüfen offizielle Berichte und offizielle Behauptungen. Ich habe mit einem Vater in Gaza telefoniert, der seine gesamte Familie verloren hat, und er nannte die Namen seiner Kinder, die getötet wurden. Er war so ruhig, so gefasst. Ich musste daran denken, dass wir die Verantwortung haben, das Zeugnis dieses trauernden Vaters zu teilen. Es ist eine große Verantwortung, diese Geschichten möglichst wahrhaftig zu erzählen und so hart wie möglich dafür zu kämpfen, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Budour Hassan, Chefresearcher*in bei Amnesty International zu Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten

Budour Hassan Amnesty International Researcherin Israel OPT Portrait Suare C Amnesty International
© Amnesty International

Der Missbrauch neuer und bereits existierender Technologien, darunter auch generative künstliche Intelligenz (KI), wird zu einer immer größeren menschenrechtlichen Herausforderung.

Politische Gruppen in vielen Teilen der Welt verstärken ihre Angriffe auf Frauen, LGBTIQIA+ Personen und marginalisierte Gemeinschaften, die häufig aus politischen und wahltaktischen Gründen zu Sündenböcken gemacht werden.

Neue und bestehende Technologien werden zunehmend zur Unterstützung dieser repressiven politischen Kräfte herangezogen – durch die Verbreitung von Desinformationen, um Gemeinschaften gegeneinander auszuspielen und Minderheiten anzugreifen.

© Nurphoto Via Getty Images

Es ist anzunehmen, dass die Verbreitung politischer Falschinformationen noch stärker zunehmen wird – angesichts der zahlreichen Wahlen im Jahr 2024 ein besorgniserregender Trend, den es zu stoppen gilt.

Amnesty hat letztes Jahr aufgedeckt, wie Facebooks Algorithmen Gewalt im Konflikt in Äthiopien befeuerten. Sie förderten die Verbreitung feindseliger Rhetorik gegen die tigrayische Bevölkerung. Amnesty sprach mit Abrham Meareg. Sein Vater, der tigrayische Chemieprofessor Meareg Amare, wurde von einer Gruppe von Männern getötet, nachdem er zuvor mittels Facebook-Posts ins Visier genommen worden war.

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© Abrham Meareg, Family Archive

Auch die Überwachungsindustrie bedroht weltweit unsere Rechte und Freiheiten, während ihre Regulierung weitgehend unwirksam bleibt.

Die Staaten haben den weltweiten Handel mit Spionagesoftware nicht in seine Schranken verwiesen.

Recherchen von Amnesty International trugen 2023 dazu bei, den Einsatz der Pegasus-Spionagesoftware gegen Journalist*innen und die Zivilgesellschaft aufzudecken in Armenien, der Dominikanischen Republik, Indien und Serbien.

© Kena Betancur 2023 Getty Images

Einige Aufsichtsbehörden und betroffene Personen bemühten sich, weitere Verstöße zu verhindern.

Im Juli 2023 verkündete der Gerichtshof der Europäischen Union ein zentrales Urteil gegen das überwachungsbasierte Geschäftsmodell von Meta, dem Facebook und Instagram gehören.

Ebenfalls ein Zeichen dafür, dass die europäischen Entscheidungsträger*innen zu handeln beginnen, ist der Digital Services Act. Dieser ist zwar unvollständig, hat aber die globale Debatte über die Regulierung von Künstlicher Intelligenz vorangetrieben, die wir dringend brauchen.

Nach jahrelangen Verhandlungen verabschiedete das Europäische Parlament Anfang 2024 die neue Verordnung zur Regulierung künstlicher Intelligenz, den sogenannten EU AI Act.

„Das Gesetz gilt als die weltweit erste umfassende Gesetzgebung zur künstlichen Intelligenz und wird die Entwicklung und den Einsatz von Technologien in einem breiten Spektrum von Bereichen abdecken: Bildung, Wohnungsbau, Polizeiarbeit, Grenzüberwachung und viele andere Bereiche. Es wird sich auf viele grundlegende Rechte auswirken, darunter das Recht auf Nichtdiskriminierung, auf Privatsphäre, auf friedlichen Protest und auf soziale Sicherheit.“

Mher Hakobyan, Berater für KI-Regulierung bei Amnesty International

Mher Hakobyan, Berater Für KI Regulierung C Amnesty International
© Amnesty International

In manchen Ländern brachte das vergangene Jahr Fortschritte für die Rechte von Frauen, Mädchen und LGBTIQIA+ Personen.

Weltweit verschärften sich jedoch auch die Gegenreaktionen. Regierungen höhlten Rechte aus und ergriffen keine Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

In Afghanistan verboten die Behörden Frauen jegliche Bildung über die Grundschule hinaus. Im Iran setzen die Behörden den Kopftuchzwang unerbittlich durch.

© The Washington Post

Frankreich verankerte die Freiheit zum Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung, verbot aber als religiös ausgelegte Kleidungsstücke an Schulen und beim Sport, wodurch muslimische Frauen und Mädchen diskriminiert wurden.

In Österreich blieb die Anzahl an Femiziden auch im Jahr 2023 auf einem hohen Niveau. Allein im vergangenen Jahr gab es mutmaßlich 26 Femizide. Schwangerschaftsabbrüche werden auch in Österreich nach wie vor kriminalisiert.

© Amnesty International

Weltweit sind Frauen überproportional von wirtschaftlicher und sozialer Marginalisierung und Armut betroffen. Auch Österreich ist hier keine Ausnahme: Frauen sind besonders armutsgefährdet und erleben geschlechtsspezifische Hürden beim Zugang zur Sozialhilfe.

Die Sozialhilfe ist in Österreich generell löchrig und verstößt gegen die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs. Anstatt Armut zu lindern, verfestigt sie diese. 17% der Menschen in Österreich sind armutsgefährdet.

Neben Frauen und Familien mit Kindern sind auch geflüchtete Menschen eine besonders betroffene Gruppe: Subsidiär Schutzberechtigte und ukrainische Geflüchtete sind in Österreich vom Zugang zur Sozialhilfe ausgeschlossen und müssen mit der deutlich geringeren Grundversorgung auskommen. Sie haben mit der Deckung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wohnen oder Gesundheitsversorgung zu kämpfen.

© DANIEL LEAL AFP Getty Images

Weiterhin ungelöst ist in Österreich das Problem, dass unbegleitete geflüchtete Kinder verschwinden. Einer der Hauptgründe dafür ist das Fehlen einer Obsorge ab Tag 1 für diese Kinder.

Auch der Umgang europäischer Entscheidungsträger*innen mit Geflüchteten macht wenig Hoffnung auf Fortschritte. Der Schiffbruch vor Pylos letzten Juni war eine der tödlichsten Tragödien, die sich jemals im Mittelmeer ereignet haben.

Der neue EU-Migrationspakt wird zu noch mehr Leid für Geflüchtete und Migrant*innen führen. 

© Greek Coast Guard Anadolu Agency Via Getty Images

In Österreich wie in Europa ist der Asyl- und Migrationsdiskurs viel zu häufig von Rassismus und Diskriminierung und viel zu selten von konstruktiven Lösungen geprägt.

Die Lage ist nicht einfacher geworden: Durch den Angriff auf Israel am 7. Oktober und den Krieg in Gaza nahmen antisemitische und muslimfeindliche Hassverbrechen in Österreich und in anderen europäischen Ländern zu.

In einer Welt, in der die Bedrohungen zunehmen, ist es für uns alle wichtiger denn je, wachsam zu sein und unsere Rechte zu verteidigen. Rund um den Globus unterdrücken staatliche Stellen abweichende Meinungen und das Recht auf Protest.

Gleichzeitig zeigen Aktivist*innen weltweit, dass Veränderung möglich ist – von der #MeToo-Bewegung in Thailand bis zur wachsenden Bewegung zur Bewältigung der Klimakrise.

 

 

© Jose Santos Nurphoto Via Getty Images

Der Amnesty Jahresbericht dokumentiert jährlich die aktuelle Lage der Menschenrechte weltweit – unsere gemeinsame Aufgabe ist es, den Status Quo nicht hinzunehmen.

“Das Recht auf Protest ist unerlässlich, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Botschaft der Menschen ist klar: Wir verlangen die Achtung unserer Menschenrechte. Nun liegt es an den Regierungen zu zeigen, dass sie zugehört haben.”

Shoura Hashemi, Geschäftsführerin Amnesty International Österreich

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© Harald Wandl / Amnesty International

Der Amnesty Jahresbericht zeigt auf, was wir dringend brauchen: menschliche Politik, die unsere Rechte in den Mittelpunkt stellt.

Nicht nur in Österreich, sondern für weltweit rund dreieinhalb Milliarden Menschen werden 2024 neue Regierungen oder Staatsoberhäupter gewählt.

Werden wir in diesem wichtigen Jahr nicht müde, die Entscheidungsträger*innen an ihre Verantwortung zu erinnern!

Im Superwahljahr 2024 wird unser gemeinsamer Einsatz für Menschenrechte wichtiger denn je sein.