Tod in Zeitlupe

Wie die Taliban-Herrschaft das leben von frauen und mädchen zerstört

Nach der Machtübernahme der Taliban können Frauen und Mädchen in Afghanistan kaum mehr ein menschenwürdiges Leben führen. Ihre Rechte werden in allen Lebensbereichen unterdrückt. Einige Frauen und Mädchen haben uns aus ihrem neuen Leben berichtet, das sich seit dem 15. August 2021 von Tag zu Tag immer radikaler verändert.

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© Kiana Hayeri / Amnesty International

Keine Rückkehr in die Schulen für Mädchen

Die Taliban haben die große Mehrheit der Mädchen der Sekundarstufe daran gehindert, in die Schule zurückzukehren. Sie riefen die Mädchen der Sekundarstufe am 23. März 2022 zur Rückkehr in die Schule auf, um sie dann am selben Tag mit der Begründung eines "technischen Problems" im Zusammenhang mit ihren Schuluniformen nach Hause zu schicken.

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Fatima, eine 25-jährige Gymnasiallehrerin in der Provinz Nangarhar

Diese jungen Mädchen wollten nur eine Zukunft haben, und jetzt sehen sie keine Zukunft vor sich... Es gibt Millionen afghanischer Mädchen, die darauf warten, dass etwas geschieht.

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Schikane an den Universitäten

An den Universitäten wurden Studentinnen durch die Taliban schikaniert. Studentinnen und Lehrerinnen mussten befürchten, von den Taliban belästigt oder verfolgt zu werden.

Nach der Machtübernahme studierten Frauen in einem unsicheren Umfeld, in dem sie systematisch gegenüber männlichen Studenten benachteiligt wurden. Die Taliban zwangen ihnen Verhaltensnormen und Einschränkungen in Bezug auf ihre Möglichkeiten und ihre Kleidung auf.

In der Folge haben viele Frauen ihr Studium abgebrochen. Andere haben beschlossen, sich nicht an einer Universität einzuschreiben.

Seit Dezember 2022 werden Frauen von den Universitäten ausgeschlossen. Universitätsbildung wird ihnen nun völlig verwehrt.

Efat, ehemalige Studentin, 22 Jahre

Mein Bruder und ich waren auf dem Weg zu unserem Englischkurs. Ich ging hinter ihm... Eines der Taliban-Mitglieder hielt mich an... Er fragte: "Wohin gehst du?" Er hatte eine Waffe über der Schulter. Ich sagte, dass ich zu meinem Englischkurs gehe. Er nahm seine Waffe und schlug mich damit.

Viele weitere Probleme beeinträchtigen den Zugang von Mädchen und Frauen zu Bildung auf allen Ebenen: Die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, ein Mangel an Lehrkräften und die sinkende Motivation aufgrund der fehlenden Perspektiven und stark eingeschränkten Karrieremöglichkeiten unter den Taliban.

Die Taliban haben Frauen in ganz Afghanistan ihre Arbeit verboten. Die meisten weiblichen Regierungsangestellten wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben, mit Ausnahme derjenigen, die in bestimmten Bereichen wie Gesundheit und Bildung arbeiten. In der Privatwirtschaft wurden viele Frauen aus hochrangigen Positionen entlassen.

Kathool, ehemalige Direktorin einer Privatschule

Nachdem meine Schule wiedereröffnet wurde, stellten sie mich nicht wieder ein. Sie sagten, Frauen könnten nicht in hochrangigen Positionen arbeiten. Jetzt hat meine Schule einen neuen männlichen Direktor... Auch alle Beschäftigten in der Verwaltung sind jetzt Männer. Mir geht es nicht gut. Ich war eine arbeitende Frau. Jetzt sitze ich zu Hause und habe nichts zu tun. Es fühlt sich alles falsch an.

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Die Politik der Taliban scheint darin zu bestehen, dass sie nur Frauen, die nicht durch Männer ersetzt werden können, weiterarbeiten lassen. Frauen, die weiterhin arbeiten, berichteten Amnesty International, dass sie es angesichts der von den Taliban auferlegten Beschränkungen in Bezug auf ihre Kleidung und ihr Verhalten äußerst schwer haben, wie etwa die Vorschrift für Ärztinnen, keine männlichen Patienten zu behandeln oder nicht mit männlichen Kollegen zu interagieren.

Die von den Taliban verhängten Arbeitsverbote haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, die die einzige oder wichtigste Verdienerin ihrer Familien waren.

Farida, ehemalige Büroangestellte

Als Nangarhar zusammenbrach, wurde das Büro geschlossen... weil Männer und Frauen nicht zusammen arbeiten dürfen... [Meine Familie] verbrachte zwei Wochen ohne Essen zu Hause. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass wir einmal kein Essen auf dem Tisch haben würden.

Die Taliban schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen zunehmend ein. Zunächst ordneten sie an, dass Frauen und Mädchen auf längeren Reisen von einem Mahram, einer männlichen Aufsichtsperson, begleitet werden müssen.

Nun haben die Taliban verfügt, dass Frauen ihr Haus nur noch verlassen dürfen, wenn es notwendig ist. Frauen und Mädchen erzählten Amnesty International, dass angesichts der zahlreichen und  immer stärkeren Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit jedes Auftreten in der Öffentlichkeit ohne einen Mahram ein ernsthaftes Risiko darstelle. Die Mahram-Anforderungen machen ihr tägliches Leben fast unmöglich.

Zohra, Rechtsanwältin

Alles, was ich sehe, sind die Wände um mich herum. Ich kann nicht einmal aus dem Haus gehen. Ist das Leben?

Feruza, Universitätsstudentin

Das ist wie eine Quarantäne für Covid-19, aber unser ganzes Leben ist in Quarantäne.

Die Taliban haben immer strengere Richtlinien für die Kleidung von Frauen und Mädchen eingeführt. Am 7. Mai 2022 verfügte das "Ministerium für Sitte und Tugend" einen Erlass, wonach Frauen sich vom Kopf bis zu den Zehen bedecken müssen.

Die männlichen Familienmitglieder werden nun für die Einhaltung der neuen Vorschriften verantwortlich gemacht. Sie können inhaftiert werden, wenn sich die Frauen und Mädchen in der Familie weigern, diese einzuhalten.

Brishna, Universitätsstudentin

Zuerst durften wir keine bunte Kleidung tragen. Dann sagten sie uns, keine bunten Schals mehr zu tragen. Dann wurden wir aufgefordert, ganz schwarz zu tragen. Jetzt ist es die Burka oder die Vollverschleierung. Was erwartet uns noch?

Zainab, eine 27-jährige Frau aus der Provinz Daikundi

Warum sollten wir unser Gesicht bedecken und verbergen, wer wir sind?... Ich habe mein ganzes Leben lang ein [Kopftuch] getragen, aber ich will mein Gesicht nicht bedecken... Wenn ich jetzt versuche, über das Bedecken meines Gesichts zu sprechen, bleibt mir die Luft weg.

Bis August 2021 hatten Frauen und Mädchen, die geschlechtsspezifische Gewalt überlebt haben, Zugang zu einem landesweiten Netz von Unterkünften und Unterstützung, einschließlich rechtlicher Vertretung, medizinischer Versorgung und psychosozialer Unterstützung. Das System hatte zwar seine Grenzen, aber es half jedes Jahr Tausenden von Frauen und Mädchen. Dieses System ist völlig zusammengebrochen. Die Notunterkünfte wurden geschlossen, und viele wurden von Taliban-Mitgliedern geplündert und in Beschlag genommen. In einigen Fällen belästigten oder bedrohten Taliban-Mitglieder das Personal.

Parwin, Richterin für geschlechtsspezifische Gewaltdelikte

20 Jahre lang habe ich daran gearbeitet, alles von Grund auf neu aufzubauen... Ich habe versucht, alle zu überzeugen, damit wir ein System und einen Rahmen haben, um Frauen zu schützen. Jetzt haben wir alles verloren – alles, was wir aufgebaut haben, alles, was wir hatten... Wir sind so viele Risiken eingegangen... Es brauchte so viel Mut und Energie, so viele Opfer, um etwas aus dem Nichts aufzubauen – und dann wird es wieder zu nichts.

Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt und die Frauen, die für die Schutzdienste gearbeitet haben, sind nun in großer Gefahr. Frauen und Mädchen, die seit der Machtübernahme durch die Taliban vor der Gewalt geflohen sind, können sich nirgendwo hinwenden.

Als die Taliban im ganzen Land vorrückten, entließen sie systematisch Gefangene aus den Gefängnissen, von denen viele wegen geschlechtsspezifischer Gewaltdelikte verurteilt worden waren.

Frauen und Mädchen werden willkürlich wegen "moralischer Korruption" inhaftiert. Die Taliban verhaften Frauen, weil sie gegen ihre diskriminierende Politik verstoßen haben, etwa gegen das Verbot, sich in der Öffentlichkeit ohne Mahram zu zeigen oder mit einem Mann, der nicht als Mahram gilt, in der Öffentlichkeit zu sein. Andere wurden aufgrund ihrer Flucht vor Misshandlung inhaftiert. Die Frauen sind in der Haft unmenschlichen Bedinungen, Folter und Misshandlungen ausgesetzt.

Ein Gefängnismitarbeiter

Sie haben Gewalt durch ihren Ehemann oder dessen Familie erlebt und landeten im Gefängnis... Einige kamen, da sie die Taliban selbst ansprachen und fragten: "Wo ist eure Notunterkunft?" [Die Taliban] hatten keine, also landeten sie im Gefängnis.

Die Zahl der Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratungen in Afghanistan ist unter der Herrschaft der Taliban sprunghaft angestiegen. Strukturelle Ursachen dafür sind die wirtschaftliche und humanitäre Krise sowie die fehlenden Bildungs- und Berufsaussichten für Frauen und Mädchen.

Khorsheed, Mutter einer 13-jährigen Tochter, die sie an einen 30-jährigen Mann verheiratete

Sie wird nicht mehr hungern müssen.

© UNHCR / J. Tanner

Manche Familien verheiraten die Frauen, um ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen. Andere Familien zwingen Frauen und Mädchen, Taliban-Mitglieder zu heiraten. Auch Taliban-Angehörige selbst zwingen Frauen und Mädchen zur Heirat.

Die systematische Diskriminierung durch die Taliban führte zu einer Welle friedlicher Proteste von Frauen und Mädchen in ganz Afghanistan. Die Taliban haben die Rechte dieser Frauen und Mädchen auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit verletzt. Friedliche Demonstrant*innen wurden während der Proteste misshandelt, unter anderem durch Schläge und Elektroschocks mit Tasern. Viele Demonstrant*innen wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert, fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer, wurden gefoltert und misshandelt.

Friedliche Demonstrantin, die für 10 Tage inhaftiert wurde

[Die Taliban-Wächter] kamen immer wieder in mein Zimmer und zeigten mir Bilder von meiner Familie. Sie wiederholten immer wieder... 'Wir können sie töten, sie alle, und du wirst nichts tun können... Weine nicht, mach keine Szene. Nachdem du protestiert hast, hättest du mit Tagen wie diesen rechnen müssen.

Demonstrantinnen, die von den Taliban inhaftiert wurden, erzählten Amnesty, dass sie nur unzureichend Zugang zu Nahrung, Wasser, Hygieneartikeln und medizinischer Versorgung hatten. Um ihre Freilassung zu erlangen, wurden die Frauen gezwungen, "Vereinbarungen" zu unterzeichnen, wonach sie und ihre Familienangehörigen weder erneut protestieren noch öffentlich über ihre Erlebnisse während der Inhaftierung sprechen würden.