Frauen und das Recht auf Protest
Trotz der zahllosen Bedrohungen haben Frauen im ganzen Land Proteste organisiert. Während einige Demonstrationen friedlich abgehalten werden konnten, wurden viele von den Taliban gewaltsam unterdrückt. Am 4. September wurden etwa 100 Frauen, die an einer Demonstration in Kabul teilnahmen, von Taliban-Spezialkräften auseinandergetrieben, die in die Luft schossen und Berichten zufolge Tränengas einsetzten. Nazir, ein Menschenrechtsverteidiger, berichtete Amnesty International wie sein Freund Parwiz von den Taliban schwer verprügelt und gefoltert wurde, nachdem er am 8. September an einer Demonstration für die Rechte der Frauen teilgenommen hatte. „Als die Taliban Parwiz freiließen, zwangen sie ihn, neue Kleidung anzuziehen, weil sein Gewand von seinem Blut durchnässt war.“ Schließlich erließ das von den Taliban kontrollierte Innenministerium am 8. September eine Anordnung, die alle Demonstrationen und Versammlungen in ganz Afghanistan verbot, „bis eine Demonstrationsverordnung erlassen wird.“
Klima der Angst: Augenzeugenberichte eines Menschenrechtsverteidigers
Für den vorliegenden Bericht sprachen die Menschenrechtsexpert*innen unter anderem mit Mahmud, einem afghanischen Menschenrechtsverteidiger, dem es gelungen ist, das Land zu verlassen. Mahmud beschrieb, wie er an dem Tag, als die Taliban in Kabul einmarschierten, einen Anruf erhielt, in dem er aufgefordert wurde, sein Fahrzeug, die Ausrüstung und das Geld seiner Organisation an die Taliban zu übergeben. Der Anrufer kannte seinen Namen und warnte ihn, er habe keine andere Wahl als zu kooperieren. In den folgenden Tagen erhielt Mahmud weitere Anrufe und WhatsApp-Nachrichten, in denen er nach seiner Privatadresse gefragt und aufgefordert wurde, sich an bestimmten Orten zu treffen. Zwei Kollegen seiner Nichtregierungsorganisation waren von den Taliban verprügelt worden. Bilder, die von einem seiner Mitarbeiter geteilt und von Amnesty International und einem Gerichtsmediziner bestätigt wurden, zeigen Peitschenhiebe auf den Rücken und Blutergüsse am linken Arm des Opfers.
Einschüchterung gegen Journalist*innen
Auch zwei in Kabul lebende Journalistinnen, mit denen Amnesty International sprach, berichteten von den Drohungen und Einschüchterungen, denen sie nach der Machtübernahme der Taliban ausgesetzt waren. Aadila etwa beschrieb die ersten zwei Wochen der Taliban-Herrschaft als eine Zeit der Angst und Unsicherheit. Sie hatte zunächst beschlossen, in Afghanistan zu bleiben und ihre Arbeit fortzusetzen, bis die Taliban eines Nachts zu ihrem Haus kamen und nach ihr fragten. Auf Drängen von Verwandten verließ sie kurz darauf das Land. Ein anderer Journalist, Abdul, erzählte, dass Redakteur*innen, Journalist*innen und Medienmitarbeitende von den Taliban die Anweisung erhalten hätten, dass sie nur im Rahmen der Scharia und der islamischen Regeln und Vorschriften arbeiten dürften. „Ich habe mich seit dem Fall der Republik nicht mehr bei meiner Arbeit gemeldet. Die Taliban kamen mehrmals zu meinem Haus, aber ich habe mich versteckt. Seit dem Zusammenbruch ist unser Büro geschlossen“, sagte er.
UNO gefordert: Menschenrechtsverletzungen durch Taliban werden nicht geduldet
Gemeinsam mit der Veröffentlichung des aktuellen Berichts fordert Amnesty den UN-Menschenrechtsrat auf, eine unabhängige Untersuchungskommission einzurichten, um Beweise für Verbrechen nach internationalem Recht und andere schwere Menschenrechtsverletzungen und -missbräuche in ganz Afghanistan zu sammeln und zu dokumentieren.“ Bereits letzte Woche, im Vorfeld der UN-Abstimmung über die Verlängerung der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA), erklärte Lawrence Moss, Vertreter von Amnesty International bei den Vereinten Nationen, dass „dass die UN-Menschenrechtsbeobachter*innen vor Ort bleiben und sich in dieser gefährlichen Zeit für die Rechte der Afghan*innen einsetzen müssen.“ Juliette Rousselot, FIDH-Programmverantwortliche für Südasien, ergänzt: „Die internationale Gemeinschaft darf die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nicht verschließen. Wenn der UN-Menschenrechtsrat konkrete Maßnahmen verhängt, sendet dies nicht nur die klare Botschaft, dass Straffreiheit nicht geduldet wird, sondern er trägt auch dazu bei, Verstöße auf breiterer Ebene zu verhindern. Gleichzeitig muss der Internationale Strafgerichtshof von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden, damit die in Afghanistan begangenen Völkerrechtsverbrechen eingehend untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“